helnwein österreich

ZEIT magazin Nr. 20 – 12. Mai 1989

MUSEUM OF THE 100 PICTURES; G:HELNWEIN WRITES ABOUT DONALD DUCK; CREATED BY DISNEY ARTIST CARL BARKS

MICKYMAUS UNTER DEM ROTEN STERN

von Gottfried Helnwein

Als ich ein Heft öffnete, fühlte ich mich wie einer, der bei einem Grubenunglück verschüttet worden war, und nun nach vielen Tagen Finsternis wieder ans Tageslicht trat.
Ich blinzelte, weil sich meine Augen noch nicht an das gleissende Licht der Sonne von Entenhausen gewöhnt hatten, und sog gierig die frische Briese, die vom Geldspeicher Dagobert Ducks herüberwehte, in meine staubigen Lungen.

MUSEUM OF THE  100 PICTURES; G:HELNWEIN WRITES ABOUT DONALD DUCK; CREATED BY DISNEY ARTIST CARL BARKS

Gottfried Helnwein, geboren 1948 in Wien, gehört zu den populärsten Künstler der jüngeren Generation. Der Helnwein-Film von Peter Hajek eröffnete die Österreich-Woche der Berliner Filmfestspiele 1984; 1985 schlug der österreichische Maler und Graphiker Rudolf Hausner ihn zu seinem Nachfolger als Leiter der Meisterklasse Malerei an der Akademie für bildende Künste in Wien vor.

ERINNERUNGEN
von Gottfried Helnwein

Nachts war mein Kinderzimmer in ein tiefes rotes Licht getaucht - meine Spielsachen, die Möbel, mein Bett, meine Hände - alles hatte die gleiche Farbe und schien aus demselben weichen Material zu sein. Als wären die Naturgesetze aufgehoben, schien alle Materie von innen heraus zu glühen.
Die Ursache dieser roten Wundernächte war der riesige leuchtende Stern der Roten Armee auf dem Dach der Fabrik gegenüber, der nachts seine Glut in meine Kinderstube goß.
Die Tage hingegen waren grau, zäh wie Schleim und von grenzenloser Langeweile, alles erschien mir unwirklich und häßlich.

Es war das Wien der Nachkriegszeit, in dem ich aufgewachsen bin. Ich lebte mit meinen Eltern in Favoriten, einem traditionellen Wiener Arbeiterbezirk, der damals zur sowjetischen Besatzungszone gehörte.
Das Haus, in dem wir wohnten, fristete ein kümmerliches Dasein zwischen einer Gießerei aus der Jahrhundertwende und einem grauen Monstrum von Fabrikanlage aus der Nazizeit, welches nun auf dem Dach das Zeichen seiner neuen Herren trug, eben jenen gewaltigen roten Stern.

In meiner Erinnerung ist alles rostig und staubig. Die Straßen waren wie ausgestorben, nichts bewegte sich, niemand sprach. Die wenigen Menschen, die ich sah, waren gedrungen, unförmig, gebeugt. Eine Welt, die stille stand, ohne Geräusche, ohne Farbe, ohne Bewegung, nur manchmal durchbrochen vom Lärm eines klobigen Lastwagens, der vollbeladen mit russischen Soldaten, mit Karacho durch die Straße fuhr.
Dann war es wieder still.

Ich hatte das Gefühl, das höchste Ziel der Menschen um mich herum war, übersehen zu werden. Das einzige, was sie zu fürchten schienen, war, aufzufallen, entdeckt zu werden.
Eine Stadt spielte Toter Mann.
Ich war ein Außerirdischer, der auf einem unbekannten Planeten gestrandet war, und nun, nachdem sein Raumschiff explodiert war, keine Möglichkeit mehr hatte, hier wegzukommen.
Ich mußte durch den Aufprall nicht nur die Orientierung, sondern auch mein Gedächtnis verloren haben, denn ich hatte vergessen, wer ich war und woher ich gekommen war.
Ich wußte nur eines mit Gewissheit, daß dies eine fremde Welt war, die mich nun umbarmherzig umschloß.

Es war eine Welt, wie nach einem schlampigen Weltuntergang, wo eben doch ein paar überlebt hatten, die nun vorsichtig und geduckt in den Trümmern weiter dahinvegetierten, in der Hoffnung, der ewige Richter möchte sie übersehen.

Ich dämmerte in dieser Schattenwelt wie im Valiumrausch dahin, bis eines Tages mein Vater vom Büro nach Hause kam, ein in braunes Packpapier eingeschlagenes Paket vor mich hinstellte und den Spagat, der es zusammenhielt, mit seinem Taschenmesser durchtrennte.
Vor mir quoll die bunte Pracht der ersten deutschen Micky-Maus-Hefte auf den Parkettboden.

Als ich ein Heft öffnete, fühlte ich mich wie einer, der bei einem Grubenunglück verschüttet worden war und nun nach vielen Tagen Finsternis wieder ans Tageslicht trat. Ich blinzelte, weil sich meine Augen noch nicht an das gleißende Licht der Sonne von Entenhausen gewöhnt hatten, und sog gierig die frische Briese, die vom Geldspeicher Dagobert Ducks herüberwehte, in meine staubigen Lungen.

Ich war wieder daheim, in einer vernünftigen Welt, in der man von Straßenwalzen plattgewalzt und von Kugeln durchlöchert werden konnte, ohne Schaden zu erleiden, in einer Welt, in der die Menschen wieder anständig aussahen, mit gelben Schnäbeln oder schwarzen Knäufen als Nase.
Und hier traf ich auch jenen Mann, der mein Leben verändern sollte, von dem der österreichische Poet H. C. Artmann sagte, er sei der einzige Mensch, der uns heute noch etwas zu sagen habe: Donald Duck.
Nach all den Jahren der Entbehrung jeglicher Kunst und Ästhetik hatte mich eine große Kultur umarmt.

Ich sah die sieben Städte von Cibola, wühlte mit Donald und seinen Neffen im funkelnden Geschmeide in den Schatzkammern versunkener Paläste.
Es war mir ein Hochgenuß mit dem alten Bankier Duck wie ein Seehund in dessen 13 Trilliarden hineinzuspringen, wie ein Maulwurf darin herumzuwühlen und die Taler in die Luft zuschmeißen, daß sie uns auf die Glatzen prasselten.

Beim Fähnlein Fieselschweif lernte ich die unschätzbaren Dienste des Pfadfinderhandbuches zu schätzen, wenn es galt, in Rekordzeit eine Notbrücke über eine Schlucht zu schlagen, einen Unhold in einem hohlen Baum aufzuspüren oder ein kleines Mädchen zu retten, das hilflos auf einer Eisscholle auf einen tosenden Wasserfall zutrieb.
Und nicht zuletzt der Umgang mit Leuten wie Schmu Schubiak, Kasimir Keiler, dem Haarigen Harry oder Sebastian Sandig (genannt der Wüstenwastel) schärfte mein Auge für die Einschätzung meiner Mitmenschen - und in jenen Jahren eignete ich mir jene Menschenkenntnis an, die mich nie betrogen hat.

Walt Disney ist zweifellos das große Genie des 20. Jahrhunderts, ein reinkarnierter Leonardo da Vinci, der reifer und größer wiedergekommen war, um das gewaltigste Gesamtkunstwerk aller Zeiten zu errichten.
Sein ästhetisches Imperium hat das Antlitz dieser Welt verändert, für ihn ging der alte Künstlertraum in Erfüllung, der von ihm geschaffenen Kreatur Leben einzuhauchen, sie mit einer Stimme zu versehen und vor der ganzen Welt tanzen zu lassen.

Hunderte Künstler arbeiteten für den Großen Inspirator, unter ihnen Salvador Dalí, Aldous Huxley und Sergei Prokowief.
Die Rieseninstallation Disneyworld und Epcot Center in Florida sind größer als alle Projekte Christos, die Pyramiden und Versailles zusammen und vor allem lustiger.
Die Pop-Art eines Roy Lichtensteins und eines Andy Warhols ist lediglich der Widerschein dieses gewaltigen Flächenbrandes, dem sich kaum ein Künstler dieses Jahrhunderts entziehen konnte.

Wie bei allen großen Kulturepochen ist es aber das Zusammentreffen verschiedener Künstlerpersönlichkeiten, die so ein kreatives Spannungsfeld erst möglich machen.
Der wichtigste Partner Walt Disneys war ein der Öffentlichkeit bis heute weitgehend Unbekannter, ohne den das Disneysche Mammutwerk auf tönernen Füßen stünde: der geniale Zeichner und Poet Carl Barks, der Schöpfer der Duck-Saga.
Er war es eigentlich, der bei mir und so vielen anderen den entscheidenden Funken gezündet hat. Sein begnadeter Strich, sein subtiler Humor und seine brillante Analyse der Leidenschaften und Schwächen der Menschen von Entenhausen haben in mir die Liebe zur Kunst geweckt.

Als ich vor ein paar Jahren den damals 85jährigen Carl Barks in seinem bescheidenen Häuschen in den Bergen Oregons aufsuchte, um ihm zu sagen, was seine Arbeit für mich bedeutet, da wunderte sich der alte Mann und sagte, ähnliches habe er in letzter Zeit zu seinem Erstaunen immer wieder von verschiedenen Künstlern gehört, - und er zeigte mir ein E.T.-Poster an der Wand auf dem gekritzelt stand: "Für Carl Barks und Donald Duck -, denen ich alles verdanke, Steven Spielberg."

Excerpt from "Micky Maus unter dem roten Stern" ( Micky Maus under the Red Star), ZEIT-Museum der 100 Bilder, Autoren und Kuenstler ueber ihr liebstes Kunstwerk.
Zeitmagazin Nr.20,12. Mai, 1989
Museum of the 100 pictures, Gottfried Helnwein about Donald Duck and his creator: Disney artist Carl Barks.
Published by Fritz Raddatz:
Insel Taschenbuch, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1989